Die Themen des Wienerliedes

Das Wienerlied bis heute
Über Wienerliedtexte zu schreiben ist aufgrund der Materialfülle nicht einfach. Es gibt geschätzte 60-70.000 Wienerlieder, und täglich kommen neue hinzu.

Wienerlieder sind Vortragslieder und nicht wie Volkslieder in geselliger Runde zu singen. So stehen am Beginn des Wienerliedes auch der Bänkelgesang, Balladen und Moritaten, vorgetragen von Harfenisten, Leiermännern, Werkelspielern und Bänkelsängern. Der Weg führt vom Bänkel über die Pawlatschen auf die Bühne.

Die soeben genannten Liedgattungen sind kein Spezifikum Wiens. Viele der um 1800 gesungenen Lieder sind oder waren auch in Deutschland und der Schweiz verbreitet. Immer wieder stoßen wir auf „Ur-Weana-Liader“, die sich aber, gelegentlich mit spezifischen Textanpassungen, im gesamten deutschen Sprachraum finden. Ein Beispiel dieser Zeit ist etwa das Handwerkerspottlied Wie machen ’s denn die Schneider?, das in vielen Liedersammlungen anzutreffen ist.

Wein, Weib, Gesang?

Das Klischee, dass sich Wienerlieder vor allem und überhaupt mit Wein, Weib, Gesang, der Weanerstadt und dem Tod beschäftigen, lässt sich leicht widerlegen, gibt es doch eine weitaus größere Palette an Themen. Allerdings: Tausende Wienerlieder besingen den Wein, das Schwipserl, das Räuscherl und die entsprechenden Weinorte wie Grinzing, Sievering, Stammersdorf und andere.

Beim Weib wird es in Wien schon ein wenig komplizierter. Eine große Anzahl Volkslieder sind dem Thema Liebe, dem Mädchen und der Frau gewidmet, aber das Wienerlied kennt die Frau fast nur als Typ: als Weiberl, Alte, keppelnde Alte, Alte, die den Mann vom Heurigen heimschleppt: Natürlich gibt es die „feschen Madln“, die „Weana Bleamerln“, die „bezaubernde Wienerin“, aber von Liebe ist keine Spur. Neuere Wienerlieder geben der Liebe mehr Raum wie Karl Hodinas I liassert Kirschen für di wachsen. Hinzu kommen auch jene Lieder, die im Grenzbereich zu Tonfilm und Operette, aber auch zum ländlichen Lied angesiedelt sind.

Stark vertreten ist die musikalische Anbetung Wiens selbst. Neben der herrlichen Stadt mit dem exzessiv besungenen Stephansdom, Donaustrom und dem Wienerwald kommen zahlreiche Orte zu Ehren. Wien wird vorwiegend so besungen „wie ’s früher war“. Einst, früher, vor [...], so war ’s amal oder Erinnerung sind die Zauberformeln. Mit der Gegenwart hatte man offensichtlich immer Probleme. Karl Kraus meinte nur lakonisch: „Ich muß den Ästheten eine niederschmetternde Mitteilung machen: Alt-Wien war einmal neu“. Die „guate alte Zeit“ ist zwar nicht genau zu datieren, sieht man von Roman Domanig-Rolls Secht’s Leut’ln, so war ’s anno dreißig in Wien ab, muss aber herrlich gewesen sein. Üblicherweise ist das Biedermeier, jene goldene Backhendlzeit angesprochen, die dann in der Revolution 1848 endete. Aber Verklärung gehört zur Vergangenheit, und zum echten Weaner gehört auch das goldene Weanerherz. Ebenso der eiserne Hamur, der die Kinder dieser Stadt allweil fidel erscheinen lässt. Das Drahn, Singen, Dudeln und Paschen stellen fundamentale Lebenselixiere dar.

(Drahn: Drahrer = Nachtschwärmer, Begriff von Eduard Guschelbauer im Lied Weil i an alter Drahrer bin geprägt. Dudeln: Wiener Form des Jodelns. Paschen = rhythmisches Klatschen zu Liedern und Musikstücken.)

Eine kritischere oder ironische Auseinandersetzung mit Wien und den Wienern findet sich außer im Bereich des Kabaretts eher selten. Ludwig Grubers Die Reize von Wien und seine Wiener Bilder seien hier genannt:

Will man früh morgens in Wien promeniern,
darf man dazu kan neu’s G’wand net riskier’n.
Denn aus den Fenstern bei an’ jeden Haus
beuteln’s am auf den Kopf d’ Staubtüacher h’naus.
Sagt ma was, heißt’s: Sö Aff’, schaun’s net in d’ Höh’,
geht ma net, fliagt an glei’ nach was, ui jeh,
a Blumentöpferl mit Kaktus darin
;
ΙΙ: das san die Reize von unser’n Wien,
von unser’n lieben, teuren Wien!
:ΙΙ

Der Kabarett-Texter Louis Taufstein hat Ähnliches für Armin Berg unter dem Titel: Das g’fallt mir bei uns so in Wien geschrieben:

Wenn sich in an Wirtshaus ein Gast
Ein Beuschel in Wien geben lasst
Und sich daran verdirbt seinen Magen,
Da braucht er dann halt nicht zu klagen.
Er steigt in die Tramway o Graus,
Dort druckt man ihm ’s Beuschel heraus,
So erspart er sich die Medizin
Das g’fallt mir bei uns so in Wien!

Eine weitere Quelle ist das Theaterlied im Stil Johann Nestroys und zwar vorwiegend das Couplet. In diesen Solo-Vortragsliedern findet sich jene Form der Teilung in Strophen mit entweder durchgehender Thematik oder auch voneinander unabhängigen Inhalten und großteils textlich gleichbleibendem, jedoch in seiner Bedeutung variierendem Refrain, wie sie vielen Wienerliedern eigen ist.

Höher Peter:
’S liebt der Peter die Emilie und a sie ihn über all’s
ja es wär’ ihr ’s allerliebste, wann er ’s nehmat um den Hals,
doch der Peter is’ a Simperl, acht’ zu viel die Etiquett’,
will er ihr die Lieab erklären, so verschlagt’s ihm stets die Red’.
Und drum blickt ihn die Emilie endlich selber an so süß,
d’rauf kann er sich nimmer halten und sinkt hin zu ihre Füß’.
Drauf sagt’s: „Nicht zu meinen Füßen
g’hörst du hin, das macht mir Schmerz,
ΙΙ: höher Peter, höher Peter, ich will dich an meinem Herz!“ :ΙΙ
T: Carl Reder 1874, M: nicht bekannt.

Das Theaterlied in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sehr geschickt die Musik der Straße – heute würde man dafür den Begriff Volksmusik wählen – aufgegriffen und verarbeitet. Dieses Anknüpfen an Bekanntes erklärt auch die freudige Rezeption derartiger Lieder in jenen Theatern, die sich der Volksbelustigung verschrieben haben. Sehr verbreitete Lieder, wie “Mir is’s alles ans, mir is’s alles ans, ob i a Geld hab’ oder kan’s...“ oder Sagt er – „Wollt’s ein Mann, sagt er, seid’s fein g’scheid, sagt er,...“ entstammen dem Volkstheater.

Ländlich, modern, politisch

Die vielen ländlichen Lieder, die entweder originalgetreu oder in wienerischer Adaptierung gesungen werden, bleiben thematisch bei der Alm, dem Almawasserl, dem Almaspitz, den Jägern und Wildschützen, den Sennerinnen. Die beiden Letztgenannten sind auch immer Symbol für freies Leben, jenseits gesellschaftlicher Zwänge. Auch das offensichtlich phantasieanregende Fensterln wird häufig thematisiert. Etliche Volksliedmelodien sind in Wienerliedern verwendet worden. Man findet recht häufig den Vermerk „Unter Verwendung eines alten Volksliedes“.

Aber auch ein und dieselbe Wienerliedmelodie wurde in verschiedenen Liedern verwendet. Das bekannteste Beispiel ist die Melodie von Allweil lustig, fesch und munter, die identisch mit der des Liedes Auf der Lahmgruab’n und auf der Wieden ist. Auch Die Mondscheinbrüder verwenden in den ersten Takten die gleiche Melodie.

Jetzt lernen d’ Weiber radlfahr’n, bei uns da in Wean
Der Mann führt die Hauswirtschaft – das is’ modern.
Sie fahrt am Bycicle [gespr.: Beitschigl] lustig herum
und der Mann reibt zuhaus Zimmer und Kuchl aus
und tragt zum Zeitvertreib das klane Kind um.

Politisch ist das Wienerlied nicht besonders ergiebig, was sicher auch mit der straffen Zensur des 19. Jahrhunderts zusammenhängt. Kritik ist eher eine Sache des Kabaretts, das erst um 1900 an Bedeutung gewinnt, nicht jene der Heurigen-Unterhaltungskultur. Doch gibt es einige interessante Beispiele, wie etwa Der Wiener Charakter:

Es war zur Zeit der alten Monarchie,
da sprach Herr Biz im Gasthaus Novotny:
Hört’s wie mir leb’n, des is do nimmer schön
I sag halt allerweil, es muaß was g’scheh’n.
Man schaufelt ja dem Vaterland das Grab,
Vater Radetzky, schau’ auf uns herab.
Es wird jetzt Zeit die Serben anzupacken
und ihnen fest den Hintern auszupracken.
Und wann die Russenlackeln eppa pfauchen,
da wer'n wir absolut kein Richter brauchen,
wir haben lang genug den Herrn net zagt
dös sag’ i und dös hab’ i immer g’sagt! Weil ’s wahr is’!

Nach zwei weiteren, etwas widersprüchlichen Strophen, in denen die Abschaffung der Monarchie und dann die Wiederherstellung der guten, alten Zustände verlangt werden, schließt dieses Lied mit:

Der Wiener ist bekanntlich konsequent
und an Charakter hat er sapperment! Weil ’s wahr is’!

T: Fritz Löhner-Beda, M: Robert Stolz.

Vereinzelt gibt es Revolutions-, Widerstands- und Arbeiterlieder, die zumeist als Kontrafakturen auf bekannte Melodien geschrieben wurden.

Fremde in Wien

Im 15. Jahrhundert war unter den Donaustädten „keine reicher, keine bevölkerter, keine lieblicher als Wien“ mit seiner 2000 Fuß langen Stadtmauer und den geschäftigen Vorstädten. So berichtet Aeneas Silvius de Piccolomini (1405-1464), der spätere Papst Pius II, in seiner Historia Austrialis. Den städtischen Bürgerhäusern „[...] fehlt es an keinem Schmuck, keiner Bequemlichkeit [...].“ Über die Märkte: „Es ist unglaublich, wie viele Ladungen an Lebensmitteln täglich [...] in diese Stadt kommen, gebackene Brote, Fische, Fleisch, auch Eier und Krebse werden auf unzähligen Wagen auf den Markt gebracht.“ Ebenso unglaublich ist, „welche Menge Wein eingeführt wird, der teils in Wien selbst getrunken, teils zu Auswärtigen über die Donau flussaufwärts geschickt wird.
Aeneas Silvius de Piccolomini: Historia Austrialis, hg. von Jürgen Sarnowsky, Darmstadt 2005.

Ganz stark fällt ihm auf: „Alte Familien gibt es nur wenige, [...] fast alle sind Eingewanderte oder Fremde.“ Das war natürlich gerade vergangenen Kriegen geschuldet, und eben erblühte die Stadt wieder als Handelszentrum, zum Beispiel für Wein. Aber ebenso waren die Wanderhändler aus der Slowakei, Slowenien, Ungarn, Italien noch bis zum Ersten Weltkrieg in den Straßen Wiens unterwegs und boten in bunter Tracht, Kaufrufe schreiend, ihre Waren zu Kauf oder Verlosung („Ausspielen“) an.

Schon 1282 finden wir als ersten erwähnten Bürgermeister Wiens Konrad Poll. „Es ist bemerkenswert, daß bereits der erste Wiener Namensträger der Familie [...] zum Amt des Bürgermeisters aufsteigen konnte.“ Unter seinen Nachfolgern setzte sich dies fort, denn es entsprach einfach „[...] den Gepflogenheiten der Zeit, daß Angehörige zugewanderter vermögender Familien schon in der ersten Generation höchste Ämter bekleiden konnten. Diese Öffnung des Ratsgremiums für Zuwanderer wurde später sogar urkundlich fixiert.
Richard Perger/Walter Hetzer: Wiener Bürgermeister der frühen Neuzeit, Wien 1981 [Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 9].

Viele Texte der Wienerlieder widmen sich den Zuwanderern. Hier vor allem den damals größten nichtdeutschen Bevölkerungsgruppen: den Tschechen und Juden. Bei den Tschechen wird häufig das Klischee vom Wenzel, der über die Taborstraße (die Taborstraße im 2. Bezirk war die Verbindungsstraße nach Tabor im heutigen Tschechien) und der Marianka, die als Köchin oder Dienstmädchen nach Wien gekommen ist, strapaziert. Natürlich sind auch tschechische Namen immer ein Erheiterungsmotiv, bis herauf zu Georg Kreislers Telefonbuchpolka.

Lauter Böhm
(Der Nawratil, Wiskoczil, Nechledil)

Im Frühjahr, wenn der Schnee zergeht,
die Veigerln blüh’n im Wald,
die Nachtigall zum Schlag’n anfangt,
das Echo wiederhallt,
da kommen viele Fremden her,
in unser’ schöne Stadt,
die nebst der Wiener G’müthlichkeit
viel Angenehmes hat,
doch d’ meisten kommen schon für wahr vom Tabor alle Jahr.
Refrain:
Der Woselak, der Zwiketak, der Pschiste und der Haderlak
Der Jiritschek, der Gebernek und dann der Wenzel Tschiptscaptschek,
der Nawratil, der Wiskoczil und auch der schöne Nechledil,
der Woperhal, der Zapletal die kommen allemal.
T & M: Carl Lorens, um 1900.

Der Antisemitismus, der in Wien ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ziemlich ausgeprägt war, hat seinen Niederschlag in zahlreichen Wienerliedern gefunden. Allerdings stammen auch viele Lieder, die Juden betreffen, aus der Kabarettszene und sind von jüdischen Textautoren verfasst worden. Hier machen sich häufig etablierte bzw. auch assimilierte Juden über neu zugewanderte Ostjuden, die vorwiegend aus Galizien kamen und im Regelfall orthodoxer und ärmer waren als hiesige, lustig.

Etwas exotischer ist die Rolle der Schwarzafrikaner im Wienerlied: 1895 wurde im Kaisergarten des Praters das Vergnügungsviertel Venedig in Wien errichtet. Zu den wechselnden Attraktionen gehörte einst ein Somali-Dorf. Auch der Anblick von „Aschanti- und Kongonegern“ wurde den Wienern geboten. Bekannt ist das Lied von Sioly und Wiesberg So a Congoneger, der hat ’s halt guat. Political correctness war damals kein Thema:

4. Und auch mit’n Ehestand
San s’ drin im Kongoland
So ziemlich aus ’m Wasser, d’ schwarzen Herrn,
Die heute auserwählte
Is schon morg’n die G’fehlte.
Wenn er haben möcht’ a andere gern.
Und auch mit der Toilett’
Gibt ’s bei der Frau kan G’frett.
Dö braucht kan Seiden’klad, kan Manillahuat,
Und wann s’ ihn granti macht,
so frißt er s’ z’samm auf d’ Nacht:
Ja, so a Kongoneger hat ’s halt guat.

Völkerschauen waren in Europa zu dieser Zeit weit verbreitet. Carl Hagenbecks Tierpark in Hamburg zeigte von 1874 bis 1931 eine große Anzahl exotischer Völker, von Eskimos bis hin zu Aborigines. Breiten Raum in diesen „anthropologisch-zoologischen“ Veranstaltungen nahmen natürlich die „Neger“ (damals der gängige Name für Menschen mit dunkler Haut, mitunter schon negativ besetzt) vor allem aus den deutschen Kolonien und auch aus der italienischen Kolonie Somalia ein. Offensichtlich wurden diese Gruppen an andere europäische Schausteller weitervermittelt. Erst mit Aufkommen des Filmes fand diese Art der Volksbildung ihr Ende. Völkerschauen waren allerdings Inszenierungen in hohem Maße und bildeten nur sehr bedingt die fremde Kultur ab.