Der Blade Binder

Ludwig Gruber
Jakob Binder (*1816, †1881) war das Kind eines Holzscheibers und einer Obstlerin, geboren im 9. Bezirk nahe der Lichtentaler Kirche „Zu den Heiligen 14 Nothelfern“ (Schubertkirche; Marktgasse 40). Seine Mutter verkaufte das in der Wohnung gelagerte Obst und Gemüse am Markt in der Inneren Stadt. Sein Vater entlud bei den Schiffsanlegestellen der Roßauer Lände das für die Wiener vorgesehene Brennholz, indem er es auf einer schweren, hochbeladenen Scheibtruhe an einem Seil auf der Schulter über steile Stege an Land zog:

Die Schulter dieses Anziehers war durch eine starke Lederauflage geschützt. Das Ausscheiben war eine sehr schwere Arbeit. Dementsprechend waren die Scheiber und die Strobler stämmige Gestalten mit sonnengebräunten Gesichtern und Armen mit Muskeln aus Stahl. Sie hatten auch eine eigene Tracht und eine eigene Berufssprache, die berufsfremden Personen kaum verständlich war. Da sie immer gut verdienten, ging es zuweilen in den Gasthäusern, in denen sie verkehrten, hoch her. Mit ihnen Streit zu beginnen, war nicht geraten, da sie in ihren hohen Stiefeln das Messer immer locker sitzen hatten. [...] Die Strobler übten ihr Handwerk bereits im 14. Jahrhundert aus und schlossen sich schon frühzeitig in einer eigenen Organisation zusammen, die bis in die 1880er Jahre bestand.
Otto Krammer: Wiener Volkstypen. Von Buttenweibern, Zwiefel-Krowoten und anderen Wiener Originalen, Wien 1983.

Als Kind erhielt Binder Gesangs- und Klavierunterricht, ja er hatte – so gut verdienten seine Eltern zu dieser Zeit – sogar sein eigenes Klavier. Bald konnte er den Organisten der Schubertkirche vertreten, und er machte zwar keine Karriere als Hofkapellen-Sängerknabe, wurde aber ins Konservatorium aufgenommen. Sein Lieblingsinstrument, der Kontrabass, war gesucht, und in der Musikantenherberge, einer Musiker-Börse im Gasthaus Zur Stadt Belgrad (8. Bezirk; Auerspergstrasse 11), fand er seine ersten Auftritte. Selbst Strauss und Lanner holten sich von dort ihre Musiker. Bald war auch seine Stimme beliebt und begehrt:

Der Opernkomponist und Kapellmeister Konradin Kreutzer (*1789, †1849) engagierte den jungen Sänger für kleine Partien in das Theater in der Josefstadt. Von dort ging er – die meisten Strecken tatsächlich zu Fuß – nach Preßburg, Agram, Warasdin, Steinamanger, Güns, Ödenburg, Wiener Neustadt, Baden, Mödling und Innsbruck. Gespielt wurde auf eigene Rechnung und diese Rechnung war sehr einfach, weil nie viel einging.
Walter Deutsch/Helga Maria Wolf: Menschen und Melodien im alten Österreich, Wien 1998.
schubertkirche1827
Die Schubertkirche 1827
Nach Reisen durch viele deutsche Städte – Binder spielte Opern in Bamberg, Theater in Würzburg, gab Konzerte mit Schubertliedern, Gastspiele in Hamburg und Prag – kehrte er 1841 (25 Jahre alt) nach Wien an die Josefstadt zurück. Inzwischen hatte er Frau und Kind, befand sich aber finanziell in einer schlechten Lage. Bald kehrte er Wien wieder den Rücken und hatte Auftritte in den Opernhäusern von Amsterdam, Rotterdam und Leyden. Nach einer Deutschlandtournee wurde er 1853 in Linz engagiert und blieb dort drei Jahre. Nach Aufenthalten in Temeswar, Laibach, Klagenfurt, Pest, Königsberg, Salzburg u.a. kam er 1860 wieder nach Wien.
blader binder Hier traf er zufällig einen alten Bekannten, einen Bühnenschriftsteller, der eben eine der ersten Singspielhallen eröffnen wollte. Hier debütierte Binder erfolgreich. 1861 ist er in der Volkssängergesellschaft von Johann Fürst (*1825, †1882) und Josef Matras zu finden, 1868 in der neu gegründeten Gesellschaft der Fanny Hornischer.

Nach Ende des Alt-Wiener Volkstheaters um 1860 entstanden zahlreiche ambulante und stabile Volkssänger-Singspielhallen, die diese Marktlücke an Unterhaltungskultur nun ausfüllten. Die Singspielhallen warfen auch bei vollem Haus nicht immer genug Gewinn ab. Man spielte meist in größeren Etablissements wie in den Thalia-Sälen in Neulerchenfeld oder im Elterleins Kasino in Hernals. Es gab aber auch feste Singspielhallen wie das ehemalige Schreiersche Affentheater im Prater, in dem Johann Fürst 1862 die neue Singspielhalle Fürst eröffnete. 1865 folgte der Umbau zum Fürsttheater, das in den 1870er Jahren zu den beliebtesten Volksbühnen zählte. Binders größter Erfolg in dieser Zeit war die Soloszene mit Gesang Der letzte Bassgeiger von der Stadt Belgrad. So war er mit 50 Jahren wieder in seiner Jugend angelangt! Mit seiner Bassgeige verfügte er auch über einen "Bühnenpartner", der ihn unverwechselbar machte, und bald war er der Lieblings-Pawlatschenkomiker der Wiener. „Er war der Sänger mit der Riesenröhr’n. Seine kräftige Stimme erregte überall Sensation, desgleichen auch sein Riesenappetit und Durst. Figur und Gehaben stempelten ihn zu einem der originellsten Käuze. Tafelfreuden gingen Binder über alles. Er ward an gastliche Stätten oft eingeladen, speiste auch einmal nach einer Produktion bei einem Prinzen. [Oder] war ... wieder einmal bei einem Hocharistokraten eingeladen.
Josef Koller: Das Wiener Volkssängertum in alter und neuer Zeit, Wien 1931.

1872 erschien seine Autobiographie als „Memoiren des dicken Binder“ im Eigenverlag – fraglich bleibt, ob er seinen Lebensabend ohne Not und Elend verbringen konnte. Hoher Alkoholkonsum und seine schwach werdende Stimme sollen letztlich seine Fans vertrieben haben.