Geschichte und Entwicklung des Wienerliedes

Pfüat di Gott, du alte Zeit
Ein wesentliches Merkmal der wienerischen Identität ist das Bewusstsein, in einer Stadt zu leben, die vom Mittelalter bis heute für ihre Unterhaltungskultur und ihren musikalischen Reichtum berühmt ist. Immer wieder findet das bunte Treiben der Musikanten und Sänger lobende Worte, auch oder gerade bei Zugereisten wie dem aus der Pfalz eingewanderten Schulmeister bei den Schotten Wolfgang Schmeltzl (* um 1500/05, † um 1564), der um die Mitte des 16. Jahrhunderts der „Hochlöblichen weitberühmbten Khüniklichen Stat Wienn“ ein besonderes Zeugnis ausstellt:

„Der Schmöltzl khain pesser schmalzgrub fand!
Ich lob diß ort für alle Land!
Hie seind vil Singer, saytenspil,
Allerley gsellschafft, frewden vil.
Mehr Musicos und Instrument
Findt man gwißlich an khainem end.“
Wolfgang Schmeltzl: Ein Lobspruch der Hochlöblichen weitberühmbten Khüniklichen Stat Wienn in Österreich, wölche wider den Tyrannen und Erbfeindt Christi nit die wenig ist, sondern die höchst Hauptbefestigung der Christenhait ist, [...] im 1548 Jar. Wien 1849, Zeile 1529 bis 1533 (Bild).

Manches Mal paart sich auch die Bewunderung für die musikbegeisterten Wiener mit dem Erstaunen über deren Ausdauer, so manches „Singen Abend für Abend sitzend [zu] verfolgen (Frances Milton Trollope: Briefe aus der Kaiserstadt, Frankfurt am Main 1980, S. 170).
In ihren Briefen aus der Kaiserstadt attestiert die Engländerin Frances Trollope den Wienern 1836 aber ebenso „Geschmack und Liebe für Musik, [die] echte und angeborene Eigenschaften des österreichischen Volkes sind.” Das gerade ausgebrochene „Walzerfieber” und die musikalische Vorrangstellung von Johann Strauss Vater (*1804, †1849) und Joseph Lanner (*1801, †1843) tat Trollope als Modelaune und vorübergehende Anwandlung ab. Sie ahnte ja nicht, dass diese Musik bis zum heutigen Tage maßgeblichen Einfluss auf das musikalische Repertoire der Wiener Oper(ette)nhäuser, Theater und Wirtshäuser hat. Wahrscheinlich ist keine andere Musikgattung gleichermaßen so in der klassischen (ernsten) Musik und der populären Unterhaltungsmusik verankert wie der Wiener Walzer. Das Wienerlied lebt im Wesentlichen vom 3/4-Takt im verschleppten Rhythmus, der kunstvoll eingesetzten Harmonik und Chromatik und textbetonenden Tempoänderungen. Der Walzer ist ihm sozusagen verinnerlicht.

Unser Einblick in die Geschichte des Wienerliedes setzt etwa um 1820 an, dem Zeitpunkt, zu dem das Wienerlied seine unverkennbare Form annimmt. Das Wienerlied ist bereits im Ursprung Vortragslied und entwickelt sich aus der Tradition der Bänkelsänger, Leiermänner und Harfenisten, jedoch nicht in direkter Ablösung dieser, so dass die Entwicklung zumindest eine gewisse Zeit parallel verläuft.

Wienerlied meint einmal die Vortragslieder, die in den Bereich der Aufführungs- und Bühnenkultur gehören. Diese hatten ihre Heimat ursprünglich auf den Pawlatschen, also den Bühnen der Wirtshäuser, später in Unterhaltungsetablissements, Varietés und Kabaretts. Auch das Theaterlied gehört diesem Bereich an. Beim Heurigen, also in den Weinschänken der Vorstädte und Vororte singt das Publikum auch selbst mit. Ländliche Lieder und Gassenhauer eignen sich für geselliges Singen besser als die textlastigen Vortragslieder. Seit dem Rückzug des Wienerliedes von der Bühne zum Heurigen entstehen auch Heurigenlieder mit kürzeren, einprägsamen Texten und markanten Refrains. Diese Form der Lieder finden wir dann auch beim Tonfilm, die Filmlieder wiederum beim Heurigen. Die Abgrenzung ist manchmal schwierig, und so wird das alles unter Wienerlied subsummiert.

Das Wienerlied bekommt in der Biedermeierzeit (1815-1848) wichtige Impulse. Neben der Beeinflussung durch die Walzermelodik und das Straßenliedgenre, das sich vor allem durch den Wiener Dialekt und die humoristische Art, aktuelles Tagesgeschehen zu kolportieren, auszeichnet, gibt es noch weitere Quellen für das Wienerlied. Da wäre das Theatercouplet im Stile Johann Nestroys (*1801, †1862) zu nennen, das ländliche oder vielmehr alpenländische Volkslied sowie das Kunstlied eines Franz Schubert. Freilich muss diese Beeinflussung – wie so oft zwischen Kunst- und Volksmusik – wechselseitig gesehen werden. Das musikalische Milieu der Wiener Gast- und Kaffeehäuser ist für den Romantiker Franz Schubert (*1797, †1828) sicher genauso von Bedeutung gewesen wie für Joseph Lanner und Johann Strauss Vater.

Den entscheidenden Schritt für ein geordnetes Musikantenwesen in den Wirtshäusern setzte ab 1828 der Reformator des Harfenistentum Johann Baptist Moser (*1799, †1863). Er nannte sich und seine Kollegen mit Stolz Volkssänger und schrieb eigene Liedtexte, die weniger zotig und derb waren als so manche der bis dahin von den Harfenisten gehörten. Mosers Stil, der sprachlich durchaus anstrengend, anspruchsvoll und belehrend war, kam nach einiger Zeit aus der Mode. Die neuen Publikumslieblinge waren nach 1850 schon bald Johann Fürst (*1825, †1882) und Josef Matras (*1832, †1887), die eigene Singspielhallen betrieben. Wichtige Autoren dieser Zeit waren etwa der Textautor Wilhelm Wiesberg und Komponist Johann Sioly, die zusammen etliche, heute noch gerne gesungene Lieder geschrieben haben.

Um 1885 kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Volkssängern und den sogenannten Natursängern, die ohne Lizenz auftraten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlor das klassische Volkssängerwesen an Bedeutung. Neue Unterhaltungsformen wie Varieté, Revuetheater, Kabarett und Operette traten als Wettbewerber auf und integrierten oftmals Volkssänger in ihren Programmen. Nach dem ersten Weltkrieg drängte auch das Kino auf den Unterhaltungsmarkt. Diese typische Entwicklung im Unterhaltungssektor kann man gut an einem Veranstaltungslokal im Wurstlprater verfolgen: Volkssänger Johann Fürst richtete in einem ehemaligen Affentheater 1861 eine fixe Singspielhalle ein (Foto), wandelte diese dann um 1870 in ein Theater um, und ab 1927 eröffnete man dort ein Kino, das bis 1981 in Betrieb war. Seit 1940 wird der Pratervorplatz übrigens Johann-Fürst-Platz genannt.

Um 1900 nahm das Wienerlied vorerst Abschied vom lustigen Couplet. Wichtige Themen wurden nun das „alte” und verloren geglaubte „Wean” und – ganz wichtig – das goldene „Weana Herz” und der „Weana Hamur”. Selbst Carl Lorens, der Hunderte von witzigen Liedern geschrieben hatte, klagte nun über das Verschwinden der wienerischen Art, die Modernisierung der Stadt, und die vielen aus der ganzen Monarchie nach Wien strömenden Fremden wurden misstrauisch beäugt. Auch wenn der Humor in den Liedern nicht ganz verschwunden ist, wurden doch mehr als allem anderen der Stadt Wien und ihren (angeblichen) Besonderheiten wie dem Wein und den Heurigen pathetisch gehuldigt. Die Autoren dieser vom heutigen Standpunkt aus gesehenen „klassischen” Periode des Wienerliedes sind zum Beispiel Franz Paul Fiebrich und Ludwig Gruber. In den 1920er und 1930er Jahren entwickelte sich daneben eine kreative Kabarettszene, deren meist jüdische Autoren mit den klassischen Wienerliedautoren oftmals eine fruchtbare Symbiose eingingen, wie etwa Fritz Löhner-Beda mit Heinrich Strecker oder Fritz Grünbaum mit Robert Stolz.

Die radikale Beseitigung der jüdischen Kultur in Wien durch die Nationalsozialisten hinterließ eine große Lücke in der Musik- und Kabarettszene Wiens. Nach dem Krieg kamen – sofern sie überlebt haben – einzelne Künstler wieder, wie etwa Hermann Leopoldi, Georg Kreisler oder Gerhard Bronner. Die Lieder widmeten sich jetzt dem Aufbau des zerstörten Wien oder etwa der zehn Jahre währenden Besatzung. Ansonsten blieben die Themen Wien, Wein und Gesang die alles beherrschenden im Wienerlied. In den 1970ern kam durch Karl Hodina und Roland Neuwirth frischer Wind in das Genre. Mit Auftritten, Schallplattenaufnahmen und eigenen Kompositionen gewann der Jazz- und Bluesliebhaber Hodina sehr schnell eine große Fangemeinde, die geradezu auf die Auferstehung des Wienerliedes zu warten schien. Sein Wienerlied Herrgott aus Sta’ von 1962 ist so populär, dass es bereits als Volkslied bezeichnet werden kann. Auch Neuwirth beschäftigte sich zunächst intensiv mit der instrumentalen Tradition der „Alten Wiener Tanz” und führte dann mit seinen Extremschrammeln diese kammermusikalische nur in Wien beheimatete Quartettbesetzung in ein neues Zeitalter. Textlich greift Neuwirth auf den Wortwitz der Couplets des 19. Jahrhunderts zurück, mit aktueller Thematik, jedoch ausgeprägter im Dialekt. Neuere Komponisten, Autoren und Ensembles des 21. Jahrhunderts, wie etwa das Kollegium Kalksburg, die Neuen Wiener Concert Schrammeln, Steinberg & Havlicek oder Die Strottern führen den Balanceakt zwischen Tradition und erfrischender Respektlosigkeit gegenüber Selbstverklärung und Wienseligkeit fort und haben damit zu einem beachtlichen Hype der Wiener Volksmusik beigetragen.