Liederweiber

Kaufrufe
Eine Wiener Spezialität waren die Lieder- und Urteilsweiber. Sie zählten mit den Kalenderverkäuferinnen zu den Papierweibern und vertrieben dieselben Druckerzeugnisse wie der Bänkelsänger.
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Im mittelalterlichen Strafprozess wurde das Geständnis des Angeklagten zusammen mit dem Urteil gedruckt und am Tag der Hinrichtung von den Urtelweibern verkauft, wobei besonders geschäftstüchtige Drucker diese Exekutionszettel zusätzlich mit den „letzten Worten des Verbrechers auf dem Schaffott“, mit Predigten am Galgen, Leichenreden am Grabe und schließlich auch mit Liedern publikumswirksam ausstatteten.

Eine weitere Verdienstmöglichkeit war der Verkauf geistlicher Liedblätter vor der Kirchentür. Viel Geld brachte das nicht, und erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts ermöglichten der Aufschwung der Literatur und die relative Zensurfreiheit unter Joseph II. ein Ansteigen ihrer Zahl und ihres Verdienstes. Jetzt traten die Liederweiber auch unternehmerisch auf: Sie zahlten den Dichter, den Drucker und das Material.

1795 wurde der ambulante Ausruf „ein für allemal und ohne Ausnahme, unter Strafe des Zuchthauses“ verboten. Unzensurierte Flugblattdrucke hatten heftige Reaktionen der Behörden ausgelöst. Liederweiber wurden verhaftet, eingesperrt oder ausgewiesen.
Gertraud Schaller-Pressler: Das Lied als Ware. Von Bänkelsängern und Liederweibern [...], in: Wien Musikgeschichte. Volksmusik und Wienerlied, hrsg. von Fritz/Kretschmer, Wien 2006, S. 37.

liederweiber2 Da man die Ausruferinnen jedoch gerne zur Vermittlung patriotischer Propaganda benutzte, hielt sich der Stand noch jahrzehntelang. Ein Lied wurde schnell zum Volkslied, wenn man es den Liederweibern in die Hand drückte.

Durch das ständige Maßregeln der Behörde erlischt ab 1848 das Dasein der Lieder- und Urtelweiber, obwohl in Wien erst 1868 die letzte öffentliche Hinrichung stattfand.
Bis etwa 1830 erschienen die Flugblattlieder in Buchdruck, nur mit Text und der Angabe einer als bekannt vorausgesetzten Melodie („Im Tone:..“), wobei als Bildschmuck oft ein primitiver Holzschnitt auf dem Titel oder eine Zierleiste genügte. Die Texte blieben dabei durchaus anonym. Franz Barth (*1789, †1853) führte um 1840 vermutlich als erster den Kupferstich ein, wobei das obere Blattviertel für die Bilddarstellung und der übrige Teil für den Text verwendet wurde.

Die dabei entwickelte Form des Liedflugblattes (einseitig bedrucktes und anschließend gefaltetes Papier von recht guter Qualität) hatte von 1840 bis 1880 allgemeine Gültigkeit. Die Tatsache, dass sich in dieser Zeit das Volkssängerwesen herausbildete, mag der Grund dafür gewesen sein, nun auch die Verfasser der Liedtexte zu nennen; denn nicht selten waren die Textautoren selbst Volkssänger, die aufgrund ihrer Popularität Verkauferfolge erzielten. Die Volkssänger-Gesellschaften bereisten schließlich ganz Österreich und Ungarn und verbreiteten diese Lieder, die sie an ihren Abenden wohl verkauft haben, in „die entferntesten Winkel der Monarchie“.
Hubert Kaut: Lied und Volksmusik in Wien, Wien 1968.



Flugblatt/"Urtel": Thodesurteil Mathias S., 13. März 1819
Digitale Scans im wvlw Archiv, mit freundlicher Genehmigung von Christian Lunzer (Löcker Verlag)


Liedblatt: Richter und Verbrecher. Melodie: Das Erbsenlied, Mathias Moßbeck Verlag, um 1840/50
Digitale Scans im wvlw Archiv, mit freundlicher Genehmigung von Christian Lunzer (Löcker Verlag)