Die Drehorgel

Dudelsack
werkel
Eine Drehorgel, auch Werkel (österreichisch) oder Leierkasten (norddeutsch), ist ein mechanisches Musikinstrument, welches nachweislich seit Beginn des 18. Jahrhunderts in allen Ländern Europas als Instrument der Straßensänger, Bänkelsänger und Gaukler aber auch – namentlich in England und Frankreich – als Kirchen- und Saloninstrument bekannt ist. Die Wurzeln der Drehorgel reichen bis in die Antike zurück, in der bereits alle wesentlichen Elemente einer selbstspielenden Walzenorgel bekannt waren. So wurden bereits im 2. Jh. v. Chr. Pfeifen, Bälge, Windladen, Walzen und der mechanische Antrieb beschrieben. Der Name ähnelt dem der Drehleier, einem Saiteninstrument, das aber genauso mit einer Kurbel zum Klingen gebracht wird.
Der Aufbau einer Drehorgel entspricht im Prinzip einer stationären Pfeifenorgel. Sie besteht aus einem Gehäuse, in dem das Pfeifenwerk, das Balgwerk, die Windlade und die Spieleinrichtung untergebracht sind. Mit Hilfe einer Kurbel oder eines Schwungrades wird über Pleuelstangen der mit Leder bezogene Schöpfbalg betätigt, der den Wind (Druckluft) erzeugt. Der Wind wird in einem Magazinbalg gespeichert, beruhigt und mit Federkraft auf einen konstanten Druck gebracht.
Über der Windlade, die eine Vielzahl von Ventilen enthält, steht das Pfeifenwerk. Jedem Ventil ist ein Ton (eine Pfeife oder mehrere Pfeifen unterschiedlicher Bauart) zugeordnet. Die Zahl der Töne kann bei Drehorgeln unterschiedlich sein (etwa von 16 bis 45). Diese Ventile werden durch die Spieleinrichtung angesteuert. Dies kann pneumatisch, mechanisch oder elektromagnetisch geschehen. Die Pfeifen sind denen einer Kirchenorgel ähnlich. Durch die Drehbewegung der Kurbel wird bei mechanisch/pneumatischer Steuerung auch der Programmträger bewegt.
Im Gegensatz zu einer manuell spielbaren Orgel wird die Ansteuerung der Töne durch einen Programmträger übernommen, der sich in der Spieleinrichtung befindet. Die älteste Form des Programmträgers ist die Stiftwalze. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts hat das Lochband bzw. der Lochkarton die Stiftwalze abgelöst. Eine Stiftwalze kann bis zu zwölf Musikstücke enthalten. Die Lauflänge des Musikstückes ist durch den Walzenumfang begrenzt. Durch Lochbänder oder Lochkartons (beides austauschbar) ist die Spieldauer fast unbegrenzt; ebenso bei elektronischer Steuerung des Pfeifenwerks. Seit Beginn der 1970er Jahre wird der Mikrochip als digitales Speichermedium für Musik im Drehorgelbau eingesetzt.
Die selbstspielende Orgel diente fast immer entweder dem direkten Broterwerb oder dem Erwecken von Aufmerksamkeit bzw. der Unterhaltung, ebenfalls mit dem Ziel des Broterwerbs (Karussellorgel, Tanzorgel). Im 18. und 19. Jh. führten Drehorgelspieler als zusätzliche Attraktion oft Tiere oder eine Laterna magica mit sich. Kaiserin Maria Theresia (1736-1780) nutzte die Drehorgel, um ihre Staatskasse zu entlasten. Statt einer Rente ließ sie an Krieginvalide „Drehorgel-Gewerbescheine“ ausgeben. Auch nach den napoleonischen Kriegen diente die Drehorgel vielen Invaliden als einzige Erwerbsquelle. Häufig konnten sich die Drehorgelspieler keine eigenen Instrumente leisten. Deshalb entwickelten sich in größeren Städten florierende Drehorgelverleihunternehmen, die die Instrumente gegen eine Gebühr verliehen und dafür Wartung und Reparatur übernahmen. Außerdem diente die Drehorgel als Hilfsmittel, um Neuigkeiten zu verbreiten: Moritatensänger zogen von Ort zu Ort und berichteten über aktuelle Nachrichten, wobei meist schaurige Geschichten im Mittelpunkt standen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwanden die Drehorgeln aus dem Straßenbild. Strenge Regeln für Straßenmusik erschwerten zudem ein regelmäßiges Spielen. Der Wiener Werkelmann Karl Nagl bekam 1977 nach langem Bemühen eine Drehorgellizenz, um in der Wiener Innenstadt drei Tage die Woche spielen zu dürfen. Heute sieht man wieder öfter Drehorgeln auf der Straße, insbesondere aber bei bestimmten Anlässen wie im Rahmen der jährlichen „Internationalen Wiener Drehorgelfesttage“. In einer Internetankündigung bei www.sempre-vita.com heißt es im Mai 2012: „Aus Österreich, Deutschland, Niederlande, Ungarn, Tschechien, Schweiz und Belgien werden über 40 Drehorglerinnen und Drehorgler anreisen und bereits am Samstag, den 12.5.2012 in der Fußgängerzone Favoritenstraße von 9 bis 12 Uhr aufspielen. Am Nachmittag wird dann in dem bekannten Vergnügungspark Böhmischer Prater in der Zeit von 14 bis 18 Uhr weiter gedrehorgelt.“
Werkelmänner wie Oliver Maar spielen heute gar nicht mehr auf der Straße. Seine zum Teil filigranen mechanischen Instrumente führt Maar lieber auf Einladung in Schulen, Museen, Workshops oder auf Festen vor. Für ihn – und viele andere Wiener Werkelmänner – gilt noch der Leitsatz von Karl Nagl, der 1992 starb: „Der Wiener Werkelmann hat nach 'n Takt draht, der hat die Musik auf der Walz'n verschönert und verfeinert mit 'n Drehn. Des kann der Deutsche net, der draht wia a Kaffeemühl. I' muaß genau wissen, wann i' jetzt stehenbleib mit der Kurbel, wie lang der Magazinbalg den Wind gibt, wie lang i' den Ton aushalten kann mit dem Wind. Und des is das eigene Gefühl, das Drehgefühl.“
Wolfgang Mohl: Der Meister des Wiener Werkls. Gespräch mit dem letzten Wiener Werkelmann Prof. Karl Nagl, in: Wiener Bonbons. Zeitschrift der Wiener Johann Strauss-Gesellschaft für Musiker und Musikfreunde, Nr.4. Wien 1993.