Gesangsvereine

Bänkelgesang
Als das kulturelle Leben in Wien durch die Kriege Napoleons und den damit verbundenen Staatsbankrott zum Erliegen gekommen war, wurde 1812 die Gesellschaft der Musikfreunde ins Leben gerufen. Ihre Aufgabe war einerseits das Veranstalten öffentlicher Konzerte (später im Musikverein, Wien I, Bösendorferstraße 12, nach Plänen von Theophil Hansen errichtet und 1870 eröffnet), andererseits die Führung eines Konservatoriums zur Musikerausbildung, das weltberühmt wurde. Als es 1909 dem privaten Verein zu groß geworden war, ging es in staatliche Leitung über: zuerst als Akademie, heute schließlich als Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien.

Die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gegründeten Musikvereine (Graz 1815, Innsbruck 1817, Linz 1821, Klagenfurt 1828, Salzburg 1841) wurden mehrheitlich als Gesangs- und Orchestervereine geführt und waren auch in kleineren Orten verbreitet. Da man nicht mit den professionellen Musikern der Hauptstadt ausgestattet war, besangen und bespielten sich die Musikvereinsmitglieder gegenseitig selbst in fröhlichen, unterhaltsamen Aufführungen. Wichtig war auch das Schaffen des Wiener „Liederfürsten“ Franz Schubert (*31.1.1796, †19.11.1828), der dem mehrstimmigen Männergesang viele Kompositionen widmete und damit zum "Klassiker" der Männergesangsvereine wurde.

Der Wiener Männergesang-Verein wurde 1843, im November 1863 der Lehrersängerchor Schubertbund (später nur Schubertbund) gegründet. Beinahe jede Stadt hatte bald ihren MGV, und in den sechziger Jahren schlossen diese sich zu sogenannten Sängerbünden zusammen: In Tirol 1860, der Steiermark, Kärnten, Oberösterreich und Salzburg 1862, Vorarlberg und Niederösterreich 1863. Die Verbindung zum Hauptverein in Wien war allen Mitgliedern Verpflichtung, gegenseitige Besuche und Gastkonzerte waren festliche Höhepunkte des gesellschaftlichen Lebens. Immer ausladender wurden die Veranstaltungen: Schon 1865 fand in Dresden das erste Deutsche Sängerbundfest statt. Bei diesem Fest wurde der Versuch unternommen, einen Dachverband Akademischer Gesangvereine und Liedertafeln zu gründen.

Durch die politischen Freiheitsrechte (Vereins- und Versammlungsfreiheit) von 1867 konnten solche Vereinigungen nun ungehemmt entstehen, zahllose Chöre, Liedertafeln, Geselligkeits-, Musik- und Sportvereine wurden gegründet. Im November 1889 kündigten die österreichischen Sängerbünde die Veranstaltung eines Deutschen Sängerbundesfestes in Wien an. Dazu erwartete man im Prater 15.000 Sangesbrüder. 70.000 Gulden – etwa 3,5 Millionen Euro – sollten die Wiener für dieses Fest an Spenden aufbringen:

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Prater mit Sängerhalle – Wien
Schon zwei Monate später wurde in einer Sizung des »Executiv-Comites des Gesammt-Bauauschusses für das große Sängerfest« die Errichtung einer 20.000 Personen fassenden Halle in Holzbauweise beschlossen. Das Gebäude war 116 m lang, 56 m breit, 23m hoch und von einer 44m hohen Kuppel bekrönt. Dem erwarteten Besucherandrang entsprechend, hatte das Bauwerk 45 Eingänge und von außen zugängliche Galerien. Die Sängertribüne war für 10.000 Personen dimensioniert.

Der Sängerfestzug gliederte sich in drei Abteilungen, in der ersten marschierten Herolde, Bannerträger, Pauker und Trompeter und mehr als drei Dutzend Sängerbünde. Die zweite Abteilung bildeten ausländische Delegationen, Festauschuß und Turner, der Wiener Bürgermeister und dessen Kollegen aus den Vororten. Ihnen folgten Feuerwehrleute, Veteranen, Landsmannschaften und mehr als 110 Vereine aus Niederösterreich. Vier Tage währte das Spektakel. Die Hauptaufführungen wurden von so prominenten Dirigenten wie Franz Mair oder Eduard Kremser geleitet.
Walter Deutsch/Helga Maria Wolf: Menschen und Melodien im alten Österreich, Wien 1998.

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Sängerhalle – Wien II.

Schon 1899 erreichte beim Steirischen Sängerbund-Fest deutschnationales Gedankengut erschreckende Ausmaße: In der Tagespresse veröffentlichte Artikel verteidigten das „Deutschthum“, repräsentiert im „deutschen Sang“, und nehmen nationalsozialistische Phrasen vorweg. Die Wortführer machten später Karriere im Dritten Reich, wie man beim Deutschen Sängerbundfest 1928 deutlich sehen kann: Es wurde von Johann Geyling und Franz Wilfert künstlerisch geleitet, die dann im Februar 1939 für die Nationalsozialisten in sämtlichen Wiener Kreisen Faschingsumzüge und Faschingsveranstaltungen inszenierten. Wilfert war im Vorstand des Männergesang-Vereines und ab 1938 NSDAP-Mitglied. Hermann Neubacher, Obmann des österreichisch-deutschen Volksbundes, trat dagegen bei seiner Ansprache beim Sängerbundfest 1928 vehement für das Selbstbestimmungsrecht Österreichs ein. Seine Ansichten hat er sicher gewandelt, denn nach dem Einmarsch der Deutschen wurde er am 13. März 1938 vom neuen, nationalsozialistischen Bundeskanzler Seyß-Inquart zum Bürgermeister von Wien ernannt.