Der Werkelmann

Der Blade Binder
Der Werkelmann spielt eine Drehorgel, auch Werkel (österreichisch) oder Leierkasten (norddeutsch) genannt. War der Werkelmann (Drehorgelspieler) früher auch musikalischer Unterhalter, Nachrichtenübermittler und Meinungsbildner (Bänkelsänger), wurde unter Kaiserin Maria Theresia das Werkel zur staatlich abgesicherten Einnahmequelle von Kriegsinvaliden, die keine anderen Einkommensquellen hatten: Diesen wurden nach dem Siebenjährigen Krieg Lizenzen erteilt, um „mit einer Drehorgel Erwerb zu suchen“.

Anfang des 19. Jahrhunderts baute man erstmals Werkel mit Fahrgestell, was weitaus bessere Arbeitsbedingungen bot. Im Jahr 1838 gab es in Wien bereits etwa 800 dieser Werkelmänner! Dabei war so ein Instrument sehr teuer und nur wenige konnten sich ein eigenes kaufen. Daher verliehen Unternehmer gegen hohe monatliche Zahlung ein solches Werkel an die Lizenznehmer, und nach Ablauf einiger Zeit ging das Instrument in deren Besitz über, wenn sie alle Monatsmieten pünktlich bezahlt hatten.
201_Der_Werkelmann Zu dem Geschäfte des Werkelspielens gehörten immer zwei Personen. Er, der Herr Werkelmann selbst und sein Führer. Diesem oblag es beispielsweise, das Werkel zu schieben, die aus den Fenstern herabgeworfenen, in Papier eingewickelten Geldmünzen zusammenzuklauben und überhaupt die, wenn man so sagen kann, »niederen Dienste« zu machen. Während der »Führer« beim Absammeln war, drehte der Werkelmann, also der Lizenzinhaber, die Kurbel, oder wie man in Fachkreisen zu sagen pflegte, die »Birne« (Kugelgriff). Ansonsten aber drehte der Führer, und sein Herr stand daneben, machte die Begrüßungszeremonien, schätzte die Vorübergehenden nach ihrer Gebefreudigkeit ab, und je nach dem Grad dieser Einschätzung entbot er dann seinen mehr oder minder devoten Gruß. Auch die nach einer Gabe folgende Verbeugung hing ganz von der Größe der Spende ab. Eins ist jedoch festzuhalten: Der Werkelmann bettelte nicht. Er bot ja dem Publikum Musik, und dieses hatte die Möglichkeit, sich hiefür in Form einer kleinen Spende zu bedanken. Deshalb hielt der Werkelmann seine Kappe oder Mütze vorerst auch immer mit der Öffnung nach unten. Erst wenn er sah, daß ein Spender seine Geldbörse zog, drehte er sie um.
Otto Krammer: Wiener Volkstypen, Wien 1983.
Vor der Erfindung des Grammophons war das Werkel der einzige Musiklieferant der kleinen Leute. Die Höfe der Vorstädte wurden zum Ballsaal, wenn am Sonntag der Werkelmann erschien. Auch viele Lieder, Walzer, Ländler und Märsche wurden vor allem als Werkelmusik populär, und Operettenmelodien oder Wienerlieder kamen so in den eigenen Hof.

1879 schrieb Johann Sioly (1843-1911) mit dem Sekretär des Strampfer Theaters Ernst Pohlhammer den Wienerlied-Klassiker Weil i a alter Drahrer bin. Ursprünglich war es das Schlusslied einer Soloszene für den damals beliebten Volkssänger Edmund Guschelbauer, die Der Werkelmann hieß. Die Soloszene kam nicht besonders gut an, aber das Lied Weil i a alter Drahrer bin musste Guschelbauer im Laufe seines Lebens über 3000 Mal singen! Der Volkssänger schuf quasi über Nacht einen neuen Begriff, der sich bis heute als urwienerisch gehalten hat: Aus dem Werkelmann, der die Kurbel dreht, wurde der leichtsinnige Drahrer, der die Nacht zum Tag verdreht. Dank seines Vortrags hat „Drahn“ im Wienerischen die Nebenbedeutung „Die Nacht zum Tag machen“ bekommen.
nagl1Karl Nagl im Böhmischen Prater

Karl Nagl

Am 4. Dezember 1922 wird Karl Nagl als Sohn des Schrammelgitarristen Karl Nagl sen. in Wien-Ottakring geboren. Trotz des geringen gesellschaftlichen Ansehens der Drehorgelspieler ist er schon als kleiner Junge von den damals noch zahlreichen Vertretern dieses Berufsstandes und ihrer Kunst dermaßen fasziniert, dass er – die Schule schwänzend – versucht, sich mit ihnen anzufreunden. Alexander Frank war der erste Werkelmann, der den kleinen Karli, er ist damals sieben (!) Jahre alt, an der Kurbel drehen lässt. Diese Leidenschaft sollte ihn Zeit seines Lebens nicht mehr loslassen.

Karl Nagl lernt als Brotberuf den des Orgelbauers bei Johann M. Kaufmann, aber auch, sehr zur Freude seines Vaters, das Spielen der Harmonika. Nach Abschluss der Lehrzeit geht er zu Ferdinand Molzer, der nahezu alle Wiener Drehorgeln gebaut hat und lernt bei ihm die Kunst, Melodien auf Drehorgel-Walzen zu setzen. Nach dem Kriegseinsatz in Norwegen kehrt er 1945 in seine zerbombte Heimatstadt zurück und findet seinen geliebten Prater mit den 46 Praterorgeln ebenso zerstört vor wie die Werkstätte Molzers. Er beschließt, Berufsmusiker zu werden und spielt fortan mit seinem Vater und anderen Musikanten in Ottakring beim Heurigen, später alleine oder mit Sängerinnen und Dudlerinnen. Die große Dudlerin Trude Mally (1928-2009) wird ab 1964 für 20 Jahre seine musikalische Partnerin in Gast- und Kaffeehäusern.

Die Liebe zu den Drehorgeln und anderen mechanischen Musikinstrumenten lässt ihn nicht los. In seiner Sammlung befinden sich Spieldosen, die schon um 1850 verwendet wurden, ein Phonograph nach Thomas Alva Edison aus dem Jahr 1890, Trichtergrammophone von Emil Berliner oder ein Manophon, das um 1900 auf den Markt kam und an Stelle der Walze bereits über ein „Tonband” verfügt, dessen Löcher entsprechende Luftkanäle für die Pfeifen öffnet.
Er kauft ab 1950 etliche Instrumente, die er liebevoll restauriert und geht mit diesen auf die Straße, um seine Leidenschaft auszuleben, denn viel verdienen kann er im wirtschaftlich darniederliegenden Nachkriegswien mit dieser Kunst nicht.

Trotz vieler Bemühungen, einiger Auftritte im Fernsehen, unterstützender Hilfe der Presse und sogar eines Gesuches an den Bundeskanzler gelingt es ihm erst im Jahre 1977, die ersehnte Drehorgellizenz zu erhalten, wodurch seine Tätigkeit auf den Boden der Legalität verlagert wird. Diese Lizenz gestattet ihm, an drei Tagen in der Woche für je drei Stunden auf den Straßen Wiens seine Drehorgeln zu bedienen.
Mitte: Karl Nagl bei der Verleihung des Ehrentitels „Professor”, 1992
Nach einem Herzinfarkt im Jahre 1984 geht Karl Nagl in Pension, singt, spielt und kurbelt aber weiterhin, soweit es sein angeschlagener Gesundheitszustand erlaubt, bei Wienerliedabenden im Café René, im Wirtshaus Zum alten Drahrer oder beim Werkelmann im Böhmischen Prater.

Am 8. September 1992 wird ihm durch den damaligen Wissenschaftsminister Vizekanzler Dr. Erhard Busek der Ehrentitel „Professor” verliehen. Als Karl Nagl am 23. August 1994 stirbt, kommen fast 500 Trauergäste zu seinem Begräbnis am Ottakringer Friedhof, um sich von dem allseits beliebten Musikanten und Sänger zu verabschieden.

Klangbeispiel: Am Bergerl steh’n zwei Tannenbäum
mahr1

Oliver Maar

Der jüngste in Österreich lebende, hauptberuflich tätige Werkelmann ist Oliver Maar. Er wird am 25. August 1973 in Wien Grinzing geboren. Ähnlich wie bei Karl Nagl hat auch ihn der „bazillus mechanicus”, das unheilbare Drehorgelvirus schon als Kind angesteckt. Als Vierjähriger beeindruckt ihn im Wiener Wurstelprater beim Ponykarussell eine Karussellorgel, ein selbst spielendes Orchesterwerk mit Schlagzeug und anderen Instrumenten, die sich geisterhaft bewegen. Mit 17 Jahren macht sich Maar mit der Drehorgel selbstständig. Er zieht in Perchtoldsdorf und Nussdorf durch die Hinterhöfe, spielt in der Wiener Innenstadt, bei Straßenfesten und Kirtagen in Wien und Niederösterreich, aber auch im Burgtheater in Johann Nestroys Der Zerissene.

Im Gegensatz zu den meisten seiner Vorfahren in dieser Zunft ist Oliver Maar Eigentümer all seiner – mitunter sehr teuren – Instrumente. Meist erwirbt er desolate Stücke auf Flohmärkten oder bei Werkelrestauratoren und lässt sie mit enormem finanziellen Aufwand von Alois Blüml, einem Restaurator in Oberbayern und wahren Meister seines Faches, wieder herrichten.

Im Sommer 1999 absolviert er in Südfrankreich bei Robert Hopp eine Lehre im Arrangieren von mechanischer Musik und zeichnet seither für alle Arrangements, die er spielt, selbst verantwortlich. Maar stellt neue Lochkarten für seine Werkel sowie Ariston-Platten selber her. Seine Arrangements reichen von alten und bekannten Wienerliedern und Wiener Tänzen über Ragtime, Jazz und Dixieland bis hin zu humoristischen Liedern mit Gesang und Kunstpfeiferei. Seit Jahren arbeitet Oliver Maar auch im Rahmen von Workshops und Vorführungen mit Schulen und Bildungsinstitutionen zusammen.

Klangbeispiele: Wer a Geld hat, Radetzky-Marsch

mahr2