Georg Traska, Christoph Lind
Hermann Leopoldi - Hersch Kohn

Hermann Leopoldi (18888-1959) war ein Meister der Populärmusik, der als "Klavierhumorist", wie er sich selbst nannte, das Publikum begeisterte.

Mit großem Aufwand und viel Liebe recherchiert, ist dieses Buch mehr als eine Biographie. Hermann Leopoldis Leben zieht uns unmittelbar in die extrem kontrastierenden Befindlichkeiten seines Schicksals als berühmter Unterhaltungskünstler mit jüdischer Identität, das nicht weniger als drei epochale Tragödien miterleben musste: Die Monarchie, den Ständestaat, den Nationalsozialismus - dabei Deportation nach Dachau und Buchenwald, dann Emigration in die U.S.A. - und schließlich die Rückkehr in den kleinen Reststaat. Es ist also gleichermaßen ein österreichspezifisches Geschichtsbuch. Man sollte es unbedingt zu Hause haben.

Das Buch ist übersichtlich gestaltet und ansprechend aufgemacht. Vor allem zeichnet es sich durch sprachliche Qualität aus. Reichlich mit Photos (samt Autographen, Dokumenten, Konzertankündigungen etc.) aus dem Nachlass bestückt, gibt eine beigelegte CD mit 20 originalinterpretierten und auf die Kapitel Bezug nehmenden Liedbeispielen schließlich ein abgerundetes Bild. Darunter sind bislang unveröffentlichte Aufnahmen zu hören. Die Kapitel wie Lieder aneinanderzureihen - eine schöne Idee. Leopoldi könnte anschaulicher nicht dargestellt werden.

Mit dem Vorliegen der nun vollständigen Aufarbeitung des Nachlasses von Hersch Kohn alias Hermann Leopoldi wird der Leser zunächst mit einer ihm unvertrauten Lebensform konfrontiert. Gemeint ist der Alltag jüdisch-wienerischer Familienverhältnisse vor dem 1. Weltkrieg, von deren Selbstverständnis der junge (vom Vater Leopold unterrichtete) Klavierschüler Herschl seine Wesensbildung und Kraft bezog. Der Vater, ein überaus versierter und beliebter Militär- und Unterhaltungsmusiker, gab sich schon damals den Künstlernamen „Leopoldi“. Hersch und dessen Bruder Ferdinand (gleichfalls Pianist) übernahmen später diesen Namen.

Herschls Entschluss, „Klavierhumorist“ zu werden, geht auf die jüdische Kabarett-Tradition zurück. Richtig beschrieben als fächerübergreifendes Genre ist sie ihrerseits ein aus der großen Volkssängertradition hervorgegangener Seitenzweig bzw. stand noch mit ihr in natürlicher Korrespondenz. Die – für den Knaben magische – Varietéatmosphäre lässt die den Kronländern innewohnende einzigartige Lebensstimmung erahnen. Leopoldi fand in dieser Welt seine solide künstlerische Basis. Diese Kraft trug ihn durchs Leben. Wie aber aus dem „namenlosen“ Klavierbegleiter Hersch Kohn der allseits beliebte „Klavierhumorist“ Hermann Leopoldi wurde, wird uns als ein mühsamer Weg geschildert: Tingelei durch die ausgedehnte Provinz. Gastengagement in Prag, schließlich Tätigkeit im Agramer Orpheum als Konzertmeister.

Wir erfahren, dass 1910 in der American-Bar Savoy (I., Himmelpfortgasse) internationale Varietékünstler ein und aus gingen, darunter der noch unbekannte Charlie Chaplin. Hersch Kohn nannte sich schon Hermann Leopoldi. Wir lesen: „Alles in allem habe ich in der Savoy-Bar sehr viel gesehen und sehr viel gelernt, (…) so spiegelt dieser Abschnitt meines Lebens das Charakteristische dieser Zeit wider. Das beschwingte, lachende und unbeschwerte und – ich möchte fast sagen ein bisserl leichtsinnige Leben dieser unvergleichlichen Metropole mit ihrer Vielzahl an Völkern und Sprachen, die diese liebenswürdigste aller Städte in genialer Manier zu verbinden wusste, hatte in dieser Bar auf seine Weise ein kleines Ebenbild.“ Leopoldi wird auf den Punkt gebracht als „(…) genauer, neugieriger und liebevoller Beobachter unterschiedlicher Kulturen, (…) ein reise- und lebenshungriger, äußerst kommunikativer Mensch, der aber als Künstler und Musiker immer auf seine Herkunft bezogen blieb – ein echter Kosmopolit von zutiefst Wiener Prägung also.“

Biographien bereichern einerseits. Diese lässt uns zugleich verarmen. Sie bringt uns den Kulturverlust wie mit der Keule zu Bewusstsein. Es geht uns ans Herz, als „…nach dem Holocaust (…), der Vertreibung der deutschsprachigen Minderheiten der Nachbarländer nach 1945 sowie unter den Bedingungen des Kalten Krieges (…) von dieser kosmopolitischen Kultur Wiens nur noch die bauliche Hülle übrig“ blieb. Diese Wehmut ist auf der CD, Titel 2, als „Wien – sterbende Märchenstadt“ nachzuhören, bildet der sensibel ausgewählte CD-Anhang doch den Extrakt dieser Lebensdarstellung.

Wir stellen fest, dass Leopoldi erst ab 1922 zum Interpreten eigener Lieder wird. Dass seine Komponistenlaufbahn mit dem auf Anhieb erfolgreichen Lied „Schön sind die Mädels von Prag“ begann. Im Two-Step geschrieben, lehnt es sich an die böhmische Polka an. In seiner Musik war er immer auf der Suche nach neuen Einflüssen. Ist es doch interessant zu lesen, wie ein solch profunder Kenner der Volksmusik plötzlich Wienerlieder mit zeitgemäßen Tanzrhythmen fusioniert. Umgekehrt hat Leopoldi amerikanische Schlager „eingedeutscht“ bzw. „verwienert“. Dabei hat ihm auch Fritz Grünbaum „geholfen“. (Es ist eine der witzigsten Passagen. Ich will sie nicht verraten.)

Die besondere Kostbarkeit dieser Biographie ist in den Auszügen aus Leopoldis Memoiren zu sehen. Ihre Veröffentlichung erhellt sein Wesen entscheidend. Ich hätte mir mehr davon gewünscht. Mögen auch die da und dort auftretenden chronologischen Lücken Mutmaßungen rechtfertigen, kann es sich dabei doch immer nur um eine von der Zeit des Autors gefärbten Interpretation und einen daher nicht unbedingt zutreffenden Blickwinkel handeln. Das betrifft Leopoldis – aus heutiger Sicht befremdliche – Haltung während des Austrofaschismus ebenso, wie auch das bloße Vorhandensein eines einzigen Briefes Leopoldis aus New York an seinen Bruder (dem die Flucht vor den Nazis misslang) nicht zwingend auf „Schreibfaulheit“ zurückzuführen sein muss.

Anm.: Die Definition „Schrammelmusik… in diesem Fall in der kleinen Formation für Knöpferlharmonika und Zither…“ (S. 25, Fußnote) ist falsch. Desgleichen, dass es sich bei Leopoldis Heurigenlied „Beim Hauer in der Anschicht“ um ein „Wiener Moll-Blues-Schema“ handelt (S. 265, unten). Aber was soll ’s: das Buch ist ein Muss! .[Roland J.L. Neuwirth]

24.90 €