Zum Wienerlied |
Das Wienerlied ist nun nicht nur ein musikalisches, sondern vor allem ein sozio-kulturelles Phänomen, das seinesgleichen sucht und in seiner eigentümlichen Beschaulichkeit seit mehr als 150 Jahren weit über Wien hinaus seine Hörer findet. Das Wienerlied ist schlechthin das „Psychogramm“ der Wiener, eine musikalisch - literarische Selbstverklärung, wie der Literaturwissenschaftler Harry Zohn einmal meinte1. Die Lieder verkündeten Lebensfreude und beklagten zugleich den Verfall, sie hätten etwas Zeitloses in ihrer selbstgefälligen Wienseligkeit und sie scheinen schon immer da gewesen zu sein. Der Tod hat ebenso seinen Platz im Wienerlied, wenn auch nicht annähernd so stark, wie immer behauptet wird. Eine große Anzahl von meist bekannten Autoren und Komponisten haben sich am Wienerlied versucht, deren Melodie und Text sich stets als genretypisch zu erkennen geben. Die beliebtesten Topoi sind Wiener Schauplätze, das sich „selbst bespiegelnde Wienerlied“2, der Wiener Dialekt, der Wein, das goldene Wienerherz, die gute alte Zeit. Im 19. Jahrhundert finden wir auch Texte von Theaterliedern, die humoristische, selbst- und sozialkritische Töne hervorbringen, letztendlich aber oft mit einem augenzwinkernden Verständnis für das besungene Sujet. Ein besonderes Kennzeichen der Wienermusik ist die Vielfalt an chromatischen und harmonischen Wendungen. Beim Singen fallen die vielen Tempoänderungen auf: diese richten sich nach dem inhaltlichen Kontext und sind darauf ausgelegt, beim Zuhörer Spannung zu erzeugen. Vor allem vor dem Refrain wird eine theatralische Pause eingelegt um dann voller Innbrunst in den Kehrreim einzusteigen, der von den meisten Zuhörern („tutti“) mitgesungen wird. Das typische Wienerlied ist im 2/4 oder 3/4 Takt notiert und wird – wie oben beschrieben - in einem unnachahmlichen Rubato vorgetragen. Oft wird im selben Lied der Rhythmus gewechselt, nicht selten verbunden mit einem Tonartwechsel bei Einsetzen des Refrains. Bei diesen Charakteristika erstaunt es umso mehr, dass sich das Wienerlied nicht nur als Unterhaltungs- und Vortragskunst etabliert hat, sondern auch als „Volksgesang“, der bei vielen über das reine Refrainsingen hinausgeht. Schätzungsweise gibt es zwischen 60- bis 70.000 Wienerlieder, von denen heutige Wiener Musiker einige hundert im Repertoire haben dürften. Dabei darf nicht vergessen werden, dass sich auch das alpenländische Lied im 19. Jahrhundert in Wien großer Beliebtheit erfreute und es nicht wenige Wienerlieder gibt, die ähnlich einfache musikalische Merkmale aufweisen. Sie sind eine kulturelle Hinterlassenschaft der Tiroler Nationalsänger und anderer alpenländischer Formationen, die ab 1820 quer durch Europa reisten und auch in Wien durchschlagenden Erfolg hatten. So hat sich auch hier der Jodler behaupten können und ist als so genannter Salonjodler oder -dudler in vielen Wienerliedern zu finden. Trude Mally (1928-2009), die letzte Dudlerin der alten Generation, hatte noch eine Reihe derartiger Lieder in ihrem Repertoire, heute pflegen vor allem die Wienerliedsänger(innen) Agnes Palmisano(*1974) und Rudi Koschelu (*1953) das Liedgut der Wiener Dudler. Unter den vielen Wienerlied – Autoren sind einige für die
Entwicklung und der Geschichte des Wienerlieds besonders bedeutsam gewesen.
“Falls man die authentische Wiener Volksmusikalität schon rettungslos verloren glaubt, erweist sich der Komponist Kronegger als erfreuliches Beispiel ungebrochener Ursprünglichkeit. Seine Stücke bestehen aus kraftvollen Melodien und ungekünstelter, echter Sprache: zauberisch die Walzerlieder (So a echtes Weaner Tanzerl), natürlich elegant seine Märsche (Mir san vom Brillantengrund, Jetzt wird’s gemüatlich!. Er hatte nur einen kurzen Seitenblick für die Moden seiner Zeitgenossen übrig und schöpfte seine Eingebungen aus dem Reservoir der alten Tanz-Kompositionen, in ähnlicher Anmut wie etwa die genialen Märsche Alexander Katzenbergers.“ [Roland Neuwirth: Das Wienerlied, Wien: Paul Zsolnay Verlag 1999, S.48] Zu Franz Paul Fiebrich (1879-1935), einem weiteren, auch heute noch gerne
gesungenen und verehrten Wienerliedkomponisten meint derselbe Neuwirth: Ab der Jahrhundertwende bis 1938 brachten vor allem jüdische Komponisten und dem Kabarett nahestehende Textdichter frischen Wind in das Genre des Wienerliedes, das sich durch Wortwitz, Hochsprache und veränderter Instrumentierung auszeichnete3. Mit dem Nationalsozialismus verschwand jene erfrischende Wendung, das Wienerlied fand zurück in den „Mir san mir“ Topos. Nach 1945 wird wieder, wie schon um die Jahrhundertwende, ein wehmütiger Blick auf die gute alte (undefinierbare) Zeit geworfen, als noch alles in Ordnung war. So wie Carl Lorens um 1890 keine lustigen Texte mehr schrieb, sondern den Untergang des Volkssängertums und des Wienerliedes beklagte und die Grundtugenden des gemütlichen Wieners hervorkehrte (und zwar nicht mehr ironisch), versuchte man nach 1945, Aktuelles oder gar Politisches im Lied zu verdrängen. Einige Ausnahmen waren etwa Herman Leopoldi (1888-1959) mit Liedern wie Ich brauch an Ziegelstein [1946] oder Peter Wehles (1914-1986) Steh auf liebes Wien [1946]. Ein hervorragendes Medium für die Verbreitung dieser Lieder und auch eben jener Stimmung wurde die Schallplatte und der Film. Die Volkssänger-Pawlatschen in den Gasthäusern und die fast tägliche Verbreitung aktueller Liedtexte gehörten nun der Vergangenheit an. Die sentimentale Rückschau in das vergangene Wien, die fast schon groteske Verherrlichung des Weins und des Trinkens und das (sich selbst besingende) Wienerlied scheinen aus heutiger Sicht die Grundmuster des Nachkriegs-Wienerliedes gewesen zu sein. Komponisten dieser Zeit waren unter anderen Hans Lang (1908-1992), Fritz Wolferl (1899-1974) oder Josef Fiedler (1898-1970), Textautoren u.a. Erich Meder (1897-1966), Josef Kaderka (1910-1993) oder Albin Ronnert (1894-1970). Nach dem Krieg etablierte sich erneut eine Kabarettszene; die satirischen
Lieder von Gerhard Bronner, Georg Kreisler und Peter Wehle trafen den
Nerv des Wieners. Helmut Qualtinger schockte 1961 die Wiener mit seiner
Darstellung des Grantlers und feigen Opportunisten Herrn Karl, der in
die Abgründe der österreichischen Seele blicken ließ.
In den Jahren davor machte Qualtinger bereits von sich reden als Interpret
Bronnerscher Satire-Schlager wie Der g’schupfte Ferdl (1952) oder
Krügerl vor’m G’sicht (1960); diese „Wienerlieder“
gelangten zwar zur Berühmtheit, spendeten dem goldenen Wienerherz
jedoch keinen Seelentrost, sondern erschütterten es eher in seinen
Grundüberzeugungen 4:
Refrain: Auch wenn der Text des Abstinenzlers Bronner sich speziell auf die Alkoholprobleme des Helmut Qualtinger bezog, ist er doch in seiner zynischen Aussagekraft ein Totalangriff gegen jene zahllosen Wienerlieder, die den Genuss von Wein als Grundpfeiler der Gemütlichkeit ansehen und damit ununterbrochen kokettieren: Wo man trinkt, da laß Dich ruhig nieder! Refrain: Mit den Komponisten, Textdichtern und Musikern Karl Hodina und Roland
Leopold Neuwirth 8 erfuhr das Wienerlied
in den 1970er Jahren einen neuerlichen Aufschwung. Auch Eberhard Kummer,
Konzertsänger und Harfenist, trug mit seinen Rundfunkeinspielungen
ab 1973 wesentlich dazu bei, die ältere Wiener Volksmusik wieder
populär zu machen. Karl Hodina, eigentlich Jazzmusiker und Maler,
Vertreter des phantastischen Realismus, begann um 1970, die „Wiener
Lieder und Tänze“ von Eduard Kremser 9
wieder zu entdecken. Mit Auftritten, Schallplattenaufnahmen und eigenen
jazz- und bluesinspirierten Kompositionen und Liedtexten gewann Hodina
sehr schnell eine große Fangemeinde, die seinen speziellen Zugang
zum Wienerlied bis heute sehr schätzt. Sein Wienerlied Herrgott aus
Sta’ (1962) ist so populär, dass es bereits als Volkslied bezeichnet
werden kann. Die wienerischen Chansons I liassert Kirschen für di
wachsen ohne Kern oder s’Vogerl am Bam gehören ebenfalls dazu.
Auch Roland Neuwirth begann sich ab 1974 für die Wiener Volksmusik
zu interessieren. Seine stark rocklastigen Konzerte wurden anfangs empört
abgelehnt, erst Mitte der 1980er- Jahre reduzierte er seine „Extremschrammeln“
von einer Rockband auf ein richtiges Schrammelquartett und erweiterte
sein Repertoire auch auf die Interpretation von alten Wiener Tänzen.
Hauptsächlich schreibt er jedoch eigene Werke und Lieder. Textlich
greift Neuwirth auf den Wortwitz der Stehgreifbühne des 19. Jahrhunderts
zurück, besonders ausgeprägt und meisterhaft im Dialekt, politisch
und gesellschaftlich immer wieder aktuell. Musikalisch fühlt er sich
dem Blues verpflichtet. Trotz beharrlicher Verweigerung der alten Wienseligkeit
ist Neuwirth nicht nur bei den Jüngeren beliebt, das Singen im Dialekt
ist für viele Ältere ein wichtigster Faktor 10.
Zur Wiener Instrumentalmusik Das Instrumentarium des typischen Schrammelensembles - chromatische Knöpflharmonika
(bzw. anfänglich die kleine G- Klarinette), Kontragitarre, und 2
Violinen – ist erst in den 1880er Jahren in Wien populär geworden.
In dieser Besetzung haben auch schon früher Ensembles gespielt, wie
etwa die Brüder Butschetty, aber es war das Quartett der Gebrüder
Schrammel 11, Dänzer und Strohmeyer,
die jener kammermusikalischen Form ab 1884 zum ewigen Ruhm verholfen haben.
Es wurde weit über Wien hinaus berühmt, der Freigeist Rudolf
von Habsburg gehörte zu den Bewunderern der erstklassigen Geiger
Johann und Josef Schrammel, mit ihnen begann die Ära der „Schrammelquartette“.
Sie traten nicht in Konzertsälen auf, sondern beim Heurigen und in
Gasthäusern. Das Tanz-Repertoire des Schrammelensembles, die „Alt
Wiener Tanz“ erinnern rein musikalisch stark an den Ländler,
die langsamen Tanzweisen sind aber eher zum Zuhören geeignet 12.
Sie leben wie das Wienerlied von der Larmoyanz des verzögerten Walzer-Rhythmus,
den theatralischen Pausen und Tempoveränderungen. Eine Besonderheit
der „wienerischen“ Geige ist das „Schnofeln“ („sul
ponticello“), d.h. der Bogen wird ganz nahe am Steg gestrichen und
erzeugt dabei einen fast wimmernden Ton. Susanne Schedtler, Wien 2008
Literatur: Bronner, Gerhard: Meine Jahre mit Qualtinger. Anekdoten, Texte und Erinnerungen. Wien: Amalthea Signum Verlag 2003 Flotzinger, Rudolf und Gruber, Gernot (Ede.): Musikgeschichte Österreichs. Vom Barock zum Vormärz . Bd.2. Wien: Böhlau Verlag Kopschar, Reinhard: Die Kontragitarre in Wien. Diplomarbeit aus dem Fachbereich „Musikalische Volkskunde“ (Universität für Musik und darstellende Kunst Wien). Wien: Unveröff. Manuskript, Wiener Volksliedwerk 2001 Ders.: Die Wiener Kontragitarre. In Bockkeller 9 (2): 4-6; 2003 Neuwirth, Roland Josef Leopold, Hg.: Das Wienerlied. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Roland Joseph Neuwirth. Wien: Paul Zolnay Verlag 1999 Ders.: Geschrammelte Werke. Die 33 extrem Besten für Gesang, Klavier und Gitarre. Von den Originalaufnahmen transkribiert und arrangiert von Michael Radanovics. Wien: Doblinger 2003 Schrammel, Johann, Hg.: Alte österreichische Volksmelodien. Wien 1888 Zohn, Harry: Das Wienerlied als Psychogramm einer Bevölkerung. In Literatur und Kritik. Österreichische Monatsschrift 24: 452-465, 1989 Dieses Essay ist die Bearbeitung eines (gekürzten) Artikels, der 2005 von der Autorin unter dem Titel „Gedanken zur regionalen Kulturarbeit in Wien“ in dem Tagungsband „Musikethnologie und Volksmusikforschung in Österreich: Das ‚Fremde’ und das ‚Eigene’ [Musikethnologische Sammelbände 20], hrsg. von Gerd Gruppe, veröffentlicht worden ist.
1 Zohn 1989: 452 3 Als Begleitinstrument wurde zunehmend das bürgerliche Klavier von den Komponisten eingesetzt, die auch als Interpreten auftraten wie z.B. Hermann Leopoldi. Andere Textautoren und Komponisten waren u.a. Fritz Rotter, Peter Herz, Fritz Grünbaum, Armin Berg, Ralph Benatzky, Robert Stolz und Fritz Löhner-Beda. 5 der grüne Kranz ist bei einem
Heurigen angebracht, wenn er geöffnet („ausgesteckt“)
hat. 7 Karl Hodina (*1935), Harmonika, Gesang, Texte und Komposition. 8 Roland Neuwirth (*1950), Kontragitarre, Gesang, Texte und Komposition. 9 Eduard Kremser (1838-1914) war Chormeister des Wiener Männergesangsvereins und gab die heute noch beliebten dreibändigen „Kremser“ Alben ab 1912 im Auftrag der Stadt Wien heraus. 10 vgl. Neuwirth 1999 und 2003. 11 Johann Schrammel (1850-1893), Josef Schrammel (1852-1895) 12 Noch heute wird ein langsamer
Landler im Innviertel „Weise“ oder im Traunviertel „Arie“
genannt, was in Wien als „Tanz“ bezeichnet wird. Mit „die“
Tanz bezeichnen die Wiener im ursprünglichen Sinn allgemein die (oberösterreichischen)
Landler, vgl. dazu auch Flotzinger und Gruber 1995 (2): 338 - 344 14 Michael Pamer ( 1782-1827), Johann Strauß Vater (1804-1849), Joseph Lanner (1801- 1843). Alle drei Komponisten kamen aus dem Milieu der Wiener Gast- und Kaffeehausmusiker, „deren Klänge zweifellos auch für Franz Schubert von Bedeutung waren“, Flotzinger und Gruber 1995: 309 15 vgl. auch Flotzinger und Gruber 1995 (2): 309, 342 zum Wiener Walzer 16 Vgl. Kopschar 2001 und 2003
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