Geschichte des Wienerliedes

Pfüat di Gott, du alte Zeit

Operette, Varieté, Kabarett
Erste Anzeichen vom Niedergang des Wienerliedes und damit der guten alten Zeit, die natürlich auch die Monarchie einbezog, gab es nach der großen Wirtschaftskrise von 1873. An die schloss sich gleich die letzte Wiener Choleraepidemie an und forderte 3000 Menschenleben. Der überhitzte Bauboom in Wien (erste Ringstraßenbauten) und die Errichtung eines Eisenbahnnetzes von 9000 km auf dem Gebiet der Monarchie hatte Banken und Spekulanten in den Konkurs getrieben. Auch die Erste Wiener Weltausstellung endete 1873 mit riesigen Verlusten, und die Selbstmordrate in Wien stieg in ungeahnte Höhen. In dem Lied Die Leut' hab'n z'wenig Geld klingt dies so:
carl lorens
Carl Lorens
A Landpartie nach Breitenfurt,
dort war der Milchrahmstrud´l guat,
Wenn´s Wetter war a bisserl fein,
per Zeiserlwag´n in d´ Wolfsgrab´n ´nein.
Vier Tag habm dauert dort die G´stanz,
da hat man g´hört d´ Schmalhofertanz;
Von Trübsal blasen war ka Spur,
´s war überall Frohsinn nur.
Mit Kind und Kegel san d´ Leut´ naus,
hab´n g´lebt in Saus und Braus.
Heut´ fahr´n d´ Leut mit der Dampftramway
nach Breitensee hinaus;
Vom Guldenwein is längst ka Spur,
an Fensterschwitz den saufen s´ nur,
Statt harbe Tanz, für´s Herz und Gemüat,
spielt a Werkelmann das Fischerliad.
Statt z´hausfahr´n mit an Zeiserlwag´n,
tuat aner den andern Buckelkraxen trag´n,
oder sö schlafen drausst im Kukuruzfeld, die Leut hab´n z´ wenig Geld,
Ref.: A G'frett is, a G'frett is, a G'frett is auf da Welt.

T & M: Carl Lorens.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlor das Volkssängerwesen an Bedeutung. Neue Unterhaltungsformen wie Varieté, Revuetheater, Kabarett und Operette traten als Wettbewerber auf. Eine bedeutende Veränderung im Gesellschaftsleben brachten zahllose Vereine wie Chöre, Liedertafeln, Geselligkeits-, Musik- und Sportvereine, deren Gründung durch die politischen Freiheitsrechte (Vereins- und Versammlungsfreiheit) von 1867 ermöglicht wurde. Der berühmte Volkssänger Edmund Guschelbauer in einem Interview:

„Vor´n Dreinundsiebz´gerjahr, [...] da war´s G´schäft a Freud´, an´ Gulden Entrée hat ma zahlt und bummvoll war´s alle Tag; heut´ san die Preise so h´runtergegangen, daß ma oft nur zwanzig Kreuzer verlangen kann und da hat ma nix. Aber i sag´s, die Vereine san schuld d´ran und die Theater!“
Neues Wiener Journal, 1.2.1903.

Wien hat auch diese Zeit überstanden und erlebte ab 1884 den Aufstieg des Quartetts der Gebrüder Schrammel und ein Zwischenhoch der Wienermusik. Das Illustrierte Wiener Extrablatt meint etwa:

guschlbauer

„Der aufmerksame Beobachter unseres Volkslebens... wird wohl zugeben müssen, dass gerade in der Gegenwart der Kultus altwienerischen Vergnügens wächst – und vielleicht sogar überhand nimmt. Der Grund hierfür liegt vielleicht in dem sich allen aufdrängenden Bewusstsein, dass die Zukunft keinen Raum mehr für diese Spezialitäten haben wird, da das Wien ohne Linienwälle auch den Vororten den Spezialcharakter nehmen wird [...].“
Illustriertes Wiener Extrablatt, 11.1.1883, zit. in: Margarethe Egger: Die Schrammeln in ihrer Zeit, Wien 1989.

Trotz positiver Fakten herrschte also Endzeitstimmung. Die Eingemeindung der Vororte, die 1850 mit den 34 Vorstädten innerhalb des Linienwalles begonnen hatte, war bis Dezember 1890 praktisch abgeschlossen und damit Groß-Wien entstanden.

Die große Metropole der österreichisch-ungarischen Monarchie stand seit dem Ausgleich mit Ungarn 1867 unter starken nationalen Spannungen. Das Wienerlied war eine der trostspendenden Verankerungen des Wienerischen und der deutschen Wiener, die den Zuzug so vieler Menschen aus den Kronländern der Monarchie, vor allem der Tschechen und galizischen Juden mit Sorge betrachteten. Viele Lieder von Wienerliedautoren zeugen von einer Verklärung der Vergangenheit und einer diffusen Angst vor der ungewissen Zukunft, der das goldene Weanaherz, der echte Weana oder das Weanalied entgegengingen: Pfüat di Gott, du alte Zeit (Wie schön war doch Wien in vergangener Zeit...) von Carl Lorens (1889) oder Dem Herrgott sei´ Masterstuck (Auf dieser Welt waß groß und klein...) von Franz Paul Fiebrich (op.68) seien hier stellvertretend genannt.