Das ländliche Lied

Volkssänger
Vor allem im 19. Jahrhundert hatte das ländliche Lied großen Zuspruch in Wien. Seit etwa 1820 gelangten alpine Lieder mit den National- und Alpensängern auch nach Wien. Schon vor 1820 brachen Tiroler aus dem Zillertal auf, voran die Familien Rainer, Strasser und Leo, um der wirtschaftlichen Not daheim zu entrinnen. Auf großen Tourneen, die sie bis nach London, St. Petersburg und in die USA brachten, sangen diese Tiroler Nationalsänger mit beachtlichem Erfolg ihre ländlichen Lieder. Übrigens wurde damit auch das 1818 entstandene Stille Nacht international in kurzer Zeit berühmt. Das Rezept wurde rasch kopiert: Schon bald jodelten sich Steyrische Alpensänger durch die Lande.

Bei dem Erfolg dieser Gruppen spielten gesellschaftliche Entwicklungen der Zeit eine bedeutende Rolle. Die Industrialisierung und die rapide Verstädterung führten zur Entfremdung von der Natur. Die Sehnsüchte der Städter entdeckten das Land als heile Welt des Ursprünglichen und Unverdorbenen. Die zu diesem Zeitpunkt entstehende Sommerfrische trug das Ihre dazu bei. Ein weiterer Faktor war die Entstehung des Nationalismus. Obrigkeitliche Versuche in Österreich, ebenso wie in Bayern so etwas wie nationale Identität zu schaffen, förderten das Tragen von Trachten, das Sammeln und Singen von Volksliedern, den Nationaltanz und endeten da wie dort im Provinzialismus. Eine Neuauflage der Volksliedbegeisterung brachten die Wander- und Jugendbewegungen, wie der Wandervogel ab etwa 1890; hier stand wieder die Natur im Vordergrund. Ideologischer, patriotischer bzw. nationalistischer ging es in den Schul- und Schutzvereinen sowie in der Turnerbewegung zu.

Auch in Wien war man bereits vom ersten Auftreten der singenden und jodelnden Trachtenträger begeistert. Bald entdeckten die Wiener Sängergesellschaften das lukrative Geschäft und ließen ihre Ensemblemitglieder in Lederhose und Tracht vor das Publikum treten. Sangen anfangs die Sänger und Sängerinnen noch vorwiegend Volkslieder aus dem alpinen Raum, wurden nach und nach Lieder im ländlichen Stil von Wiener Komponisten und Textdichtern geschaffen. Einige dieser Lieder waren so populär, dass sie in zahlreichen Volksliedsammlungen als „echte Volkslieder“ ausgegeben wurden. So das Lied von den Pfeiferlbuam - Mir san’ die zwa’ Pfeiferlbuam vom Grundlsee... das ursprünglich vom Wiener Mundartdichter Alexander Baumann stammt. Der Wildschützenmarsch von Josef Hadrawa spiegelt das ganze Ausmaß der Gebirgsromantik der damaligen Zeit wieder:

alpensaenger

Hoch drobn im Gebirg, wo’s eisig herwaht,
da schleicht sich der Wildschütz vorsichtig und stad,
sein Stutz’n zsammg’legt, versteckt hinterm Rock,
am Buck’l da schleppt er an wunderschönen Bock.
Jetzt macht er kurze Rast, sein Aug das leuchtet fast,
er hat a Hütt’n g’sehn, drum wird er ganz verleg’n,
von seinen Lippen schallt, dass in die Wand es hallt,
a Juchzer frisch und keck, ja das hat er weg.
Und aus der klan Hütt’n da schiaßt aus der Tür
A bildsaubers Deanderl glei blitzschnell herfür
[...]

Refrain: Ja, so a Wildschütz, der hat ’s guat,
so a Wildschütz, der hat ’s fein
Ihm g’hört ’s Gebirg, der Wald, juhu!
Und ’s Deanderl, das ihm g’fallt [...]
T: Josef Hadrawa, M: Jean Rinderspacher.

Ähnliche Klischees vermitteln beispielsweise: D’ Jaga san do – "Im Wald draußt is schön und prächtig" (T: Karl M. Jäger, M: Rudolf Kronegger, op.110) und Steirisch-Weanarisch von Rudolf Kronegger. Heute sind die diversen Jäger-, Wilderer-, Alm- und Sennerinnenlieder liebenswerte Anachronismen, die aber ihren festen Platz im Herrgottswinkel vieler städtischer Bürgerseelen haben.

Zum ländlichen Lied gehören auch der Jodler, der Almer oder der Dudler. Heute wird mit Dudler eine spezifische Wiener Jodelkultur bezeichnet. Früher wurden die Begriffe Jodler, Dudler, Ludler, Almer oder Almschroa synonym verwendet und dienten allenfalls einer groben Regionalzuordnung. In jüngerer Zeit versteht man in Wien unter Dudler (Audio) eine kunstvoll verzierte Form, die oft chromatisch eingefärbt ist und die man nach ihren Eigenschaften etwa „Koloratur-Salon-Jodler“ nennen könnte.

Diese Kunst wurde etwa von Trude Mally-Leitner (*1928, †2009), die bereits als Zehnjährige mit Dirndl und Tiroler Hut auf der Bühne stand, bestens beherrscht. Einige jüngere Sängerinnen wie Doris Windhager, Agnes Palmisano (Audio) und Tini Kainrath setzen sich heute ebenfalls mit dem Dudler auseinander.

Da zahlreiche ländliche Wienerlieder mit Jodlern bzw. Dudlern enden, ist es interessant zu hören, wie diese Liedform entstanden ist:

alpensaenger

„Die Zillertaler also sangen schon lange Zeit, ehe Joseph Rainer
auf den Gedanken verfiel, ihre Alpenlieder in die große Welt zu
tragen. Diese unermeßliche Erweiterung des Publikums blieb
aber nicht ohne Rückwirkung auf den Gesang selbst. Zu der
Zeit nämlich, als die Geschwister Rainer auf Reisen gingen,
war der Schnaderhaggen (Schnaderhüpfel) fast die einzige
Form, in welcher sich die Volkspoesie erging. Jetzt aber fand
man, daß im jodelnden Kunstgesang der Vierzeiler nicht
ausreichte – er war schlechterdings zu kurz, und die Verbindung
unzusammenhängender Strophen schien aus ästhetischen Gründen
nicht zu rechtfertigen. Man bemühte sich nun, längere Lieder zu
finden, von der Art, daß sich am Schlusse jedes „Gesatzls“ ein
Jodler anhängen ließ. So ist eine Anzahl Lieder in den Bereich
des Alpengesanges gezogen worden, die ursprünglich kaum
dafür berechnet waren oder die von studierten Volksfreunden
verfaßt wurden. Hie und da versuchte auch ein Älpler seine
Gefühle in längeren Gedichten auszuhauchen und den
Landsleuten zu brauchbaren Texten zu verhelfen, wie wir das
von dem Schullehrer zu Finkenberg wissen. So ergibt sich
denn, daß das meiste, was jetzt im Auslande gesungen wird,
eigens für diesen Zweck gemacht wurde. Das alte einheimische
Volkslied [...] ist schon längst vergessen“.

Ludwig Steub: Das Zillertal [1846], in: Die Alpen. Ein Lesebuch, hg. v. Franz Loquai, München 2000.

Die damalige städtische Begeisterung für ländliche Lieder ist kaum zu überschätzen. So gab es auch ein Kärntner Quintett der k.u.k. Hofoper unter der Leitung des in Wien lebenden Kärntners Thomas Koschat, der selbst eine große Anzahl volkstümlicher Lieder schrieb. Berühmt geworden ist sein Verlassen bin i nicht zuletzt durch die Aufführung von zahlreichen Chören, wie etwa dem Wiener Männergesang-Verein.